Artikel zum Thema Salutogenese

Im Laufe meiner Tätigkeit als Physiotherapeut bin ich auf die Verdienste, aber auch auf die Begrenztheit der klassischen, schulmedizinisch orientierten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gestoßen.

Deren Ansätze, aber auch die vieler alternativer Heilmethoden wie z.B. der Osteopathie, stehen noch allzu oft allein unter dem Paradigma der Pathogenese, also der immer stärker ins Detail gehenden Suche nach den möglichen Ursachen der Entstehung von Krankheiten und körperlichen Beschwerden. Ich möchte betonen, dass das natürlich wichtig und voll anzuerkennen ist.

Immer mehr habe ich mich dann auch den mindestens genauso interessanten Fragen anderer Denk- und Behandlungsansätze zugewandt, die ich unter dem Begriff der Salutogenese zusammenfassen möchte.

Im Unterschied zur Fehlerfahndung und Wissensanhäufung der vorherrschenden Denkrichtung in der Medizin, geht es bei der Salutogenese mehr um die spannende und lohnenswerte Frage nach den Ursachen für Gesundheit und Wohlbefinden.

Grundlage derartiger Ansätze und Denkmodelle ist immer ein möglichst ganzheitlicher Blick auf den Menschen (z.B. das bio-psycho-soziale Krankheits-Modell, das seit den 70er Jahren in die Medizin Einzug gefunden hat).

Auf diesem Gebiet in meinem persönlichen und beruflichen Leben zu lernen, zu forschen, Wissen, Erfahrungen und Einsichten zu sammeln, ist mir immer mehr zur Leidenschaft und Berufung geworden.

Ich versuche im Folgenden, die dabei gewonnenen Erkenntnisse kurz aufzuzeigen.
Um zu erklären worum es mir geht, sind für mich die Begriffe Lebenskraft und Lebensenergie am dienlichsten, obwohl diese schwer greifbar sind und ich mich ihnen mit Worten lediglich annähern kann.

Aussagen dazu leiten sich aus der unmittelbaren Wahrnehmung und Erfahrung ab.

Ich empfinde meine eigene Verfassung weder als ganz gesund, noch als ganz krank, sondern sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen bewegend. Fühle ich viel Kraft in mir fließen, dann fühle ich mich vital und gesund. Fühle ich mich dagegen energie- und kraftlos, bin ich anfälliger für körperliche Beschwerden und emotionales Leid.
So liegt es doch nahe zu ergründen, wie es sich mit der Lebensenergie verhält.

Kann ich denn Lebensenergie willentlich in mir aufbauen, ansammeln und sie bewusst lenken und für mein Wohlergehen einsetzen? Wie stehen meine physischen, geistigen und seelischen Kräfte in Wechselbeziehung zueinander?

Wie kommt es in mir zu Energieverlust, zur Überlastung meiner Kräfte?

Um auf solche Fragen Antworten zu finden, komme ich nicht umhin mich selbst sehr genau zu beobachten. Mir selbst den „Fluß“ der eigenen Lebensenergien bewusst zu machen.

Das beste Instrument im Dienste der Bewusstwerdung ist das Wahrnehmen aus der Stille heraus. Erst wenn ich allmählich lerne den scheinbar unablässigen Strom von Gedanken, Vorstellungen, Bildern, theoretischem Wissen, Konzepten, usw. anzuhalten, d.h. jeden Moment ganz neu, offen, unvoreingenommen, reaktionslos wahrnehmen kann, komme ich in immer tieferen Kontakt mit diesen unsichtbaren, aber wahrnehmbaren, subtilen Lebensenergien.

Dabei lerne ich auch von den Erfahrungen und Erkenntnissen anderer Menschen, die sich mit ähnlichen Fragen auseinandersetzen. Für mich sind das z.B. Trainingswissenschaftler, Sportpädagogen, Psychotherapeuten, Systemiker, Neurobiologen, Ernährungswissenschaftler, Körpertherapeuten, spirituelle Lehrer, nicht zuletzt Kollegen, Freunde und meine Patienten.

Körperbewusstheit und Achtsamkeit lassen mich erleben, wie stärkend eine aufgerichtete und zentrierte Körperhaltung sein kann, wie groß der Kraftgewinn einer tief und frei fließenden Atmung ist, wie wohltuend für Körper und Geist die Ausdauerbelastung an der frischen Luft ist, wie eindrucksvoll ich Kraft aufbaue, wenn ich im Krafttraining meine Kraft maßvoll dosiert investiere, weder mich über- noch unterfordere, vorsichtig an und über meine Grenzen hinausgehe, um an Kraft zu gewinnen.

Ich sehe wie wichtig der Gegenpol aller Aktivität ist, nämlich der Ruhe-Pol, das bewusste Nicht-Tun, das Loslassen und Entspannen. Ich erkenne, dass es darum gehen muss, beide Pole (Aktivität und Passivität in körperlicher und geistiger Hinsicht) in eine gesunde Balance zu bringen.

Ich kann die wohltuende Wirkung von achtsamer Berührung und Behandlung in einem vertrauensvollen Kontakt erspüren.
Fühle, dass Berührungen energetisch aufladen, die eigene Lebensenergie in Fluss bringen und für jeden Menschen fast essentiell sind.

Ich beginne zu erkennen, dass die Voraussetzung für inneren Frieden, Gelassenheit und Freude die Kunst beinhaltet, sich ganz und gar in der Gegenwart aufzuhalten und sich nicht von seinen gewohnheitsmäßigen, oft negativ besetzten Gedanken und Emotionen in die Vergangenheit oder Zukunft entführen zu lassen.

Gegenwärtig, Präsent Sein, bedeutet mehr in seiner Kraft Sein.

Dafür braucht es viel Aufmerksamkeit und die unerschütterliche Absicht mit allem was Jetzt ist, ohne Widerstand Da zu sein. Das bezieht sich gerade auch auf das Schwierige, das Unangenehme, das Verletzte, Zurückgehaltene, Unterdrückte, Blockierte und Schmerzende in mir.

Ich mache dabei auch die Erfahrung, dass Beschwerden, Schmerzen, Krisen immer auch notwendenden Charakter haben können. Zu Chancen für mich werden, mich ernsthaft und wahrhaftig nach Lösungen suchen lassen, mich als strenge Lehrer zu führen vermögen.
Daraus kann dann ein konstruktiver, wachstumsfördernder Umgang mit den im Leben unvermeidlichen Krisen und körperlichen Beschwerden resultieren.

Im Laufe der Zeit werde ich immer deutlicher gewahr, dass ich dabei Kraft sammle und die stärkste heilsame Kraft in mir heranreift, nämlich die Liebe!

Ich schaue auf Alles, was jetzt gerade ist, mit Annahme und Liebe.
Ohne Wertung, Konflikt, Reaktion oder Abwehr.

Die Liebe zu mir selbst, die Wertschätzung meines Körpers, die Annahme der Anderen, die sich auch in gelingenden, liebevollen Beziehungen ausdrückt, in denen ich selbst berühre und vom Gegenüber berührt werde.

Es entsteht in mir allmählich eine immer tiefere und umfassendere Liebe zu dieser Welt und all ihren Wesen, die mich nach und nach von meiner kraftraubenden und ängstlichen Egozentrik befreien kann.

Zusammengefasst:

Der Weg zu einem kraftvollen und erfüllten Leben führt meiner Körper-Lebenserfahrung nach u.a. über

  • die gesunde Balance zwischen Aktivität und Ruhe
  • den Zugang zur Kraft der Gegenwärtigkeit und den Raum der Stille
  • das liebevolle Verbunden-Sein mit sich, den Menschen und der Natur
  • die Erkenntnis, dass Krisen die Chance für Wachstum und Selbsterkenntnis beinhalten.